Festansprachen anlässlich des 30sten Jubiläums 2025
MARCEL SEIDEL:
Vor gut 10 Jahren, am 26. September 2015, sprach an meiner Stelle, im Jüdischen Kulturhaus in der Flora-Neumann-Straße, Sabine Boehlich. Sie eröffnete eine aufwendig organisierte wissenschaftliche Konferenz zum Wirken Salomo Birnbaums mit dem Titel „yidish un yidishkayt – Shloyme Birnboyms shprakhideologye“. Sabine Boehlich sprach damals, anlässlich des 20jährigen Bestehens unserer Gesellschaft, von einer „gelebten Utopie“. Diese „gelebte Utopie“ ist inzwischen bereits 30 Jahre alt geworden.
Alte und neue Herausforderungen
Ihre Geschichte begann mit dem Übersetzerkreis „fartaytsht un farbesert?“, welcher sich Anfang der 1990er regelmäßig an der Volkshochschule in der Karolinenstraße 35 traf. Am 7. September 1995 gründeten Mitglieder dieses Übersetzerkreises die Salomo-Birnbaum-Gesellschaft für Jiddisch e. V. (damals noch mit dem Zusatz „in Hamburg“). Der Verein übernahm die Aufgabe, Spenden zu sammeln, d. h. Geld, welches für die Katalogisierung der Salomo-Birnbaum-Bibliothek fehlte. Die junge SBG schrieb sich ebenfalls auf die Fahnen, Kürzungen bei den Jiddisch-Lehraufträgen an der Germanistik der Universität Hamburg entgegenzuwirken bzw. die Arbeitsbedingungen von Studenten und Lehrenden zu verbessern. Ich werde hier nicht weiter eingehen weder auf die 30jährige Odyssee dieser Jiddisch-Bibliothek noch auf die derzeitige Lage des Jiddisch-Angebots in Hamburg; auf beide Punkte wird Inge Mandos im Folgenden noch aus anderer Perspektive zurückkommen. Nur so viel: Selbst bei der SBG wiederholt sich Geschichte.
Die Gesellschaft wurde aber vor allem ein Verein zur Förderung der jiddischen Sprache und Kultur, leistete Erinnerungsarbeit und baute mit der Zeit ein internationales Netzwerk auf aus Jiddisten und Jiddischsprechern des 20. und 21. Jahrhunderts, insbesondere jiddischen Kulturschaffenden.
Was ist daraus entstanden?
Innerhalb von 30 Jahren hat die SBG mehr als 200 kulturelle Veranstaltungen auf die Beine gestellt. Sie bietet eine Plattform zur Vorstellung und Diskussion wissenschaftlicher Arbeiten aus der Jiddistik aber auch für Zeitzeugen, die über ihre Erlebnisse während oder nach der Shoah berichteten. Unsere Gesellschaft unternahm Reisen nach Israel, nach Osteuropa oder andere wichtige Jiddisch-/Jiddistik-Standorte sowie an die Orte der Shoah. Wir stellen eine Bühne für Musiker und Theaterschauspieler, aber auch für zeitgenössische Schriftsteller (Aron Barenboym, Josef Burg, Yekhiel Shraibman, Lev Berinski, Mikhoel Felsenbaum oder zuletzt in diesem Jahr Katya Kuznetsova und Yael Merlini).
Inhaltlich setzten wir uns im Rahmen unserer Jahresprogramme mit so unterschiedlichen Themenfeldern auseinander wie dem Antisemitismus während der Shoah und danach / der Nacht der im August 1952 unter Stalin ermordeten Dichter / Migration als (jüdisches) Schicksal / Jiddischbibliotheken auf der ganzen Welt / Jiddisch und „Jugend“ – Jiddisch in der nächsten Generation – um nur einige zu nennen.
Was wurde aus den akquirierten Spenden, die nicht für das inhaltliche Programm oder die Bibliothek genutzt wurden? Die SBG konnte nicht nur in einem gewissen Rahmen die Veröffentlichung wissenschaftlicher Arbeiten aus der Jiddistik finanziell unterstützen, sondern u. a. auch Übersetzungen aus dem Jiddischen oder CD-Projekte. Mit einer Spende an den argentinischen YIVO engagierte sie sich beim Wiederaufbau seiner Bibliothek nach dem großen antisemitischen Anschlag 1994 oder beteiligte sich mit Zuschüssen an den Jiddischkursen der Hamburger Volkshochschule, d. h. an deren kontinuierlichem Zustandekommen.
Was haben unsere Gesellschaft sowie ihr Umfeld konkret hinterlassen? Da wären zunächst zu nennen, ohne sie für die Gesellschaft vereinnahmen zu wollen, die Veröffentlichungen des Übersetzerkreises bei Edition Dodo. Daneben sind aber z. B. auch eine szenische Lesung und eine Ausstellung zur Czernowitzer Sprachkonferenz entstanden sowie der Dokumentarfilm „Jiddische Stimmen aus Israel“. An einem Septemberwochenende 2015 fand in einem Block die bereits erwähnte Konferenz über Salomo Birnbaum statt. Wir deckten einige wenige der oft übersehenen und verwischten Spuren des Jiddischen in Hamburg auf und brachten im Rahmen der seit 2021 jährlich aufgeführten Musikgala „Tsuzamen“ Hamburger und Kieler Jiddisch-Ensembles gemeinsam auf eine Bühne, so auch gestern beim bisher größten Konzert im Rolf-Liebermann-Studio während der Jüdischen Kulturtage.
Wer hat uns dies ermöglicht?
Ich greife an dieser Stelle einfach mal drei Institutionen heraus, ohne deren langjährige Zusammenarbeit wir höchstens einen Bruchteil unseres vielfältigen Veranstaltungsprogramms hätten umsetzen können. Genannt seien hier beispielhaft die Volkshochschule Hamburg-Mitte sowie die Gedenkstätte Israelitische Töchterschule, vertreten durch Dr. Anna von Villiez, sowie die Landeszentrale für politische Bildung Hamburg. Herzlichen Dank an dieser Stelle für die finanzielle, räumliche und organisatorische Unterstützung! Für den heutigen Nachmittag möchten wir uns außerdem hier vor Ort bei Amadeus Templeton und seinem Team von TONALi bedanken.
Warum habe ich vor einigen Augenblicken von dem Umfeld der SBG gesprochen? Ganz einfach, weil unser Verein sich aus zahlreichen individuellen Mitgliedern zusammensetzt mit ihren jeweils eigenen Begabungen und Projekten. Die SBG wäre nicht der Verein, zu dem sie geworden ist, könnte sie nicht immer wieder aus der Diversität ihrer Mitglieder schöpfen, ihrer Lebenserfahrung und ihren besonderen Kenntnissen: musikalischen, filmischen, sprachlichen, geschichtlichen, psychologischen, ornithologischen und unzähligen anderen. Genauso wenig wäre die SBG, wie wir sie kennen, gäbe es nicht dieses beinah familiäre Verhältnis zwischen unseren Mitgliedern, welches man auch international immer wieder zwischen Jiddischisten findet, den persönlichen Austausch, das Interesse am anderen, die Diskussionsbereitschaft. All diese unterschiedlichen Begabungen, Lebensgeschichten und -entwürfe bereichern unsere Gesellschaft.
Eine "gelebte Utopie" also?
Wie soll man das zu Beginn angeführte Zitat von Sabine Boehlich deuten? Gleicht die „gelebte Utopie“ der SBG, Veranstaltungen auf und über Jiddisch anzubieten, dem Luxus eines Orchideenfachs, wie es in akademischen Kreisen heißt? Oder handelt es sich eher um eine Art gesellschaftlicher Bubble, also einer Blase, scheinbar losgelöst von der derzeitigen Polarisierung im politisch-medialen Raum? Mit den Worten der Politikwissenschaftlerin Gilda Sahebi würde ich viel eher meinen, dass wir bei der SBG daran arbeiten, „verbinden statt (zu) spalten“. Und es geht dabei natürlich um die historische Verantwortung des Erinnerns an ein wichtiges kulturelles Erbe sowie die unabdingbare Vision eines gesellschaftlichen Miteinanders.
Bleibt nur noch zu sagen: S‘zol zayn mit hatslokhe un brokhe biz 120!
INGE MANDOS:
Gegenwärtig ist Jiddisch in Deutschland immer noch eine ignorierte Sprache, obgleich es vor dem 2. WK weltweit von 11 Millionen Menschen gesprochen wurde.
Im Wissenschaftsbereich gibt es weltweit eine Vielzahl von interessanten, spannenden Forschungen: historisch, literaturwissenschaftlich, sprachwissenschaftlich. In der Bevölkerung aber ist das Wissen über die jiddische Kultur noch immer nicht angekommen. Fragt man jemanden auf der Straße: „Wissen Sie was Jiddisch ist?“, bekommt man regelmäßig als Antwort: „Ach ja, jüdisch, klar, die sprechen doch da hebräisch…“ Neulich wurde unser jiddischer Schnupperkurs sogar als „jüdischer Schnupperkurs“ angekündigt.
Hier leistet die SBG permanent Aufklärungsarbeit.
Sie organisiert jährlich 6-8 Veranstaltungen mit internationalen Referenten und ist in der ganzen Welt vernetzt. Es gibt Konzerte mit jiddischer Musik, Literaturkurse in der VHS, Jiddisch-Schnupperkurse, einen Lesekreis, einen Übersetzerkreis und einen Postkartenklub, der den Kontakt zwischen Jiddisten weltweit und den Gebrauch der jiddischen Kursivschrift fördert. Nicht zu vergessen unser „Shmues-Krayz“, unser Stammtisch, bei dem die neuesten Informationen aus der Jiddisch-Szene ausgetauscht werden, wenn möglich auf Jiddisch.
Das ist schon eine ganze Menge an Aktivitäten – schließlich ist Hamburg ja nicht Berlin.
Es ist uns außerdem in den letzten 5 Jahren gelungen, uns mit etlichen Kultur-Institutionen in Hamburg zu vernetzen (IGDJ, JGHH, Reformgemeinde, Universität, SUB, Café Leonar, Hanse-Shtetl, Monat des Gedenkens Eimsbüttel, Auschwitz-Komitee, Grindel-Initiative, DenkMalAmOrt, Initiative Poolstraße). Wir wurden eingeladen zu Senatsveranstaltungen, z.B. im Rahmen der Beratungen zur Errichtung eines Jüdischen Museums in Hamburg.
Schauen wir einmal auf die Zukunft:
Die wesentliche Klippe haben wir leider noch nicht überwinden können, das ist die Wiedereinführung des Jiddischen – zumindest in Form eines kontinuierlichen Sprachunterrichts - an der Universität Hamburg.
Leider fristet das zarte Pflänzchen Jiddisch nämlich in Hamburgs Öffentlichkeit ein kümmerliches Dasein.
Die von dem Orientalisten und Sprachwissenschaftler Salomo Birnbaum 1922 in Hamburg begonnene Lehrtätigkeit wurde nach zweimaligem, aus antisemitischen Gründen gescheitertem Habilitationsverfahren, durch die 1933 erzwungene Emigration nach London beendet. Das geplante „Institutum Germano-Judaicum“ für nahgermanische Sprachen konnte trotz landesweiter Unterstützung nicht verwirklicht werden.
Jiddisch wurde im Zusammenhang mit den zahlreichen ostjüdischen Emigranten, die auf dem Weg in die Neue Welt Hamburg passierten, lediglich als ein Aspekt des sog. „Ostjudenproblems“ wahrgenommen. Ostjuden waren den assimilierten Juden peinlich, weil man ihnen ihr Judentum so stark ansah und sie oft aus ärmlichen Verhältnissen kamen.
Den Nationalsozialisten schließlich diente Jiddisch als Mittel antisemitischer Verunglimpfung. Sie stempelten Jiddisch als lächerlichen Jargon ab. Hat dies alles vielleicht Spuren hinterlassen?
Der 1980 eingerichtete Lehrauftrag Jiddisch im Rahmen der Germanistik an der Universität Hamburg wurde 2017 eingestellt.
Die von der SBG mit Unterstützung von Dr. Lilian Tuerk und der Universität Hamburg 2019 offiziell eröffnete jiddische Bibliothek musste innerhalb des folgenden Jahres wegen Renovierung, dann wegen Raummangels, endgültig geschlossen werden, weil sich in der ganzen Stadt niemand fand, der einen Raum zur Verfügung stellen konnte. Nach langer Suche wurden die Bücher als Leihgabe an das Depot der SUB übergeben und sind nun nicht mehr direkt zugänglich. Verschiedene Gespräche mit Universitätsinstituten stießen auf freundliches Interesse, blieben aber bisher ohne Ergebnis.
Besonders im oben skizzierten historischen Kontext stellt sich die Frage, wie das fehlende Engagement, der fehlende politische Wille in der Hansestadt zu erklären ist, sich für diesen wichtigen Teil jüdischer Kultur zu engagieren. Besteht nicht sogar eine Verpflichtung, die gewaltsam unterbrochene Entwicklung fortzusetzen? Jiddisch hat in dieser Stadt keine ausreichende Lobby, obgleich die jüdische Kultur hier erfreulicherweise sehr unterstützt wird.
Die Aufarbeitung der Jiddischen Geschichte wäre aber für die Freie und Hansestadt in höchst eigenem Interesse:
- Aus lokalhistorischen Gründen, weil die Präsenz der jiddischen Sprache in der Vergangenheit der Stadt eindeutig verankert ist. (Glikl von Hameln, und die Ströme ostjüdischer Emigranten)
- Aus historischen Gründen, weil die ostjüdische Geschichte ein wichtiger Teil der jüdischen Geschichte ist.
- Aus erinnerungspolitischen Gründen, weil der Umgang mit Jiddisch und Ostjudentum in Hamburg immer noch der Aufarbeitung bedarf.
- Aus wissenschaftlichen Gründen, weil die Hamburger Universität als Exzellenzuniversität den Anschluss an die so bedeutsame internationale Jiddistik finden sollte.
- Aus zeitpolitischen Gründen, weil Jiddisch schon lange nicht mehr nur die Sprache der Shoah ist, sondern als transnationale Sprache und Modell interkulturellen Zusammenlebens von aktuellem Interesse ist.
Alle Bemühungen von uns Ehrenamtlichen bleiben perspektivlos, wenn nicht an der Universität Hamburg wieder Jiddisch gelehrt und gelernt wird.
Wir brauchen junge Akademiker, die an die bedeutende Entwicklung der Jiddistik anknüpfen und diese Sprache lernen und weitergeben. Dies macht nur Sinn, wenn es auch akademische Qualifikationsmöglichkeiten gibt.
Die SBG trägt durch ihre Arbeit zum Transfer zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft bei. Sie ist der einzige Jiddisch-Verein dieser Art in Deutschland. Aber es bedarf einer festen Verankerung an der Universität und in der Stadt mit entsprechendem Personal. Nur so könnten auch unsere Probleme gelöst werden, Jiddisch-LehrerInnen für Kurse in Hamburg zu finden. Dies ist momentan fast unmöglich, weil kein Wissenschaftler es sich leisten kann, für 6-8 Stunden Unterricht nach Hamburg zu ziehen oder gar zu pendeln.
Dennoch schauen wir von der SBG optimistisch in die Zukunft. Vieles haben wir erreicht, uns neben den 80 Mitgliedern einen interessierten Freundeskreis aufgebaut. Wir lesen jiddische Literatur und erschließen uns einen Teil der so reichen ostjüdischen Geschichte und Kultur. Einige unserer Mitglieder schreiben jiddische Lyrik und Prosa, und wir unterhalten uns auf Jiddisch. Wir reden mit vielen Menschen und interessieren sie für diese Sprache.
All das beweist: Jiddisch lebt! Obwohl es insgesamt immer noch ein zartes, zu schützendes Pflänzchen ist!
Deshalb möchte ich mit einer Strophe aus dem Gedicht „Kerndlekh veyts“ –„Weizenkörner“ von Avrom Sutskever enden:
VI BAYM BASHITsN AN EYFL
IKh LOYF MITN YIDIShN VORT,
NIShTER IN YTLEKhN HEYFL,
DER GAYST ZOL NIT VERN DERMORDT.
Wie einen zarten Säugling beschützend
Laufe ich mit dem jiddischen Wort,
Suche in allen Hinterhöfen,
damit der Geist nicht ermordet werde.