Marcel Seidel

Czernowitz

Jiddisch in der Welt

Kurz nach acht Uhr abends biegen wir mit unserem Bus in eine der von Paul Celan und Selma Meerbaum-Eisinger heraufbeschworenen Kastanienalleen ein und fahren auf einen von einem Wächter in seinem Holzhäuschen bewachten, gitterumzäunten Parkplatz in der Altstadt von Czernowitz.

Wir spazieren unter einem Geflecht aus Telegraphenmasten und Stromleitungen, vorbei an abblätternden Fassaden und Holztüren, sowie einem Balkon mit Geländer, doch ohne Boden. Gebäude aus der Habsburger Zeit und dem von unserer ukrainischen Reiseführerin so genannten rumänischen Konstruktivismus wechseln einander ab.

Balkon ohne Boden, abblätterndes Mauerwerk

In den Räumlichkeiten der Vereinigung Gedankendach gelang es der Literaturwissenschaftlerin Oxana Matiychuk, einige Schriftsteller der Bukowina in wenigen biographischen Strichen interessant zu skizzieren und dann durch ein Gedicht oder eine kurze Textpassage dergestalt anschaulich zu machen, dass diejenigen, die nicht der Wahl des Zeitpunktes für den Vortrag im Anschluss an das Mittagessen schlafend zum Opfer fielen, wie gebannt an ihren Lippen hingen.

Die Universität, ehemaliger griechisch-orthodoxer Metropolitensitz, beherbergt heute u.a. das *Gedankendach*.

Dabei kristallisierte sich die bis dahin unbekannte, doch umso tragischere Gestalt der Klara Blum heraus. Schließlich hatte sie einen Teil ihres Lebens in der UdSSR und in China verbracht und dort jahrelang einen Mann gesucht bzw. vergeblich auf dessen Rückkehr gewartet, mit dem sie nur wenige Monate lang zusammengelebt hatte und der ohne ihr Wissen verschleppt worden und in einem sibirischen Lager gestorben war, noch bevor sie sich auf seine Suche hatte machen können. Letztlich hatte es sie an einen Ort verschlagen, an dem sie alles bewegen wollte und doch nichts mehr ausrichten konnte: Sie war zu spät gekommen.

Die im Volksmund so genannte Cinemagoga, ehemaliger Reformtempel, muss seit dem 2. Weltkrieg auf seine Kuppeln verzichten und ist inzwischen ein Kinopalast geworden. Beim flüchtigen Eintreten in diesen Kinopalast tauchen wir ein in eine durchdringende Popcornwolke, die vor unserem geistigen Auge jegliche Erinnerung an den großen Auftritt von Joseph Schmidt in seiner Heimat und sein tragisches Ende auf der Flucht in die Schweiz verblassen lässt.

Unter diesen Treppenstufen auf dem Weg zur Unterstadt fand man einige der verschollenen jüdischen Grabsteine...

Da die Sowjets groß im Umfunktionieren religiöser Einrichtungen waren (vgl. unter politischen Denkmälern oder unter Treppen aufgefundene Matseyves, zu Museen und Lagerhallen degradierte Gotteshäuser…), führt uns der Besuch im ehemaligen Jüdischen Haus heutzutage in den Czernowitzer Kulturpalast, welcher seit nicht allzu langer Zeit das Jüdische Museum beherbergt.

Gruppenbild vor dem jüdischen Museum

Bevor wir uns allerdings dort im Erdgeschoss einfinden, passieren wir unter den Augen vierer Atlanten in Anlehnung an die die Weltenlast tragenden Lamed-Vovniks die Eingangstür, fließen weiter nach oben und wenden unser ganzes Interesse dem berüchtigten Treppengeländer zu, welches mit Davidssternen verziert ist, denen zu sowjetischen Zeiten der sechste, überzählige Zacken gezogen und die somit in fünfendige rote Sowjet-Sterne verwandelt worden waren. Anschließend fließen wir die Treppe wieder zurück, hinab in die bescheidenen Gemächer des Museums und lauschen im vertrauten Kreis den interessanten Ausführungen des Direktors Mykola Kuschnir zum Schicksal der Juden in der Bukowina.

Über uns die vier Weltenträger
Hier wurden die fehlenden Zacken wieder angeklebt...

Besonderes Augenmerk verdient hierbei natürlich das Portrait von Nathan Birnbaum, der die Czernowitzer Sprachkonferenz von 1908 ins Leben gerufen hat, die übrigens zuerst einmal im ukrainischen Nationalhaus stattgefunden hat, da die Czernowitzer assimilierten, deutschsprechenden Juden nicht allzu viel von Jiddisch als jüdischer Nationalsprache wissen wollten.

Auf dem weitläufigen jüdischen Friedhof in Czernowitz erwartet uns zwischen Sonne und dunklen, regenverheißenden Wolken ein ganz besonderes Licht. An Mausoleen, Obelisken, sowjetischen Grabsteinen mit Abbildungen der Verstorbenen vorbei streben wir dem Grab von Eliezer Steinbarg zu und lassen dabei ein Meer aus mit sonnendurchflutetem Schöllkraut überwachsenen, schräg in den Boden einsinkenden Grabsteinen hinter uns. Ab und an werden die Schöllkrautwogen durch eiserne Gitter durchbrochen, welche die Gräber umfassen. Dann steht Kuschnir bereits auf Höhe der sich vor blauem Pastellhintergrund, unterhalb goldener Lettern windenden Jugendstilranken und liest auf Jiddisch eine von Steinbargs Parabeln vor, nämlich jene, warum die Fische ihre Stimme verloren haben und nun stumm bleiben müssen. Kurz haben wir innegehalten, doch schon ziehen wir weiter: Leicht bergan, bis wir den Zenit überschritten haben, dann unter Hinweis auf verborgene Massengräber leicht bergab bis an den Rand, wo der Blick auf die Stadt die Illusion der Losgelöstheit dieses Ackers vom städtischen, irdischen Dasein unterbindet.

Lichtspiele auf dem Czernowitzer Friedhof

Den Abschluss der Führung bietet zurück in der Stadt eine noch in Betrieb befindliche Synagoge, die in ihrem Inneren mit einem unwesentlich tieferen Blau als das Grab von Steinbarg aufwartet. Darüber hinaus gibt es allerdings zahlreiche Bilder zu bewundern, die der Maler einst unter Hilfe von Postkarten des christlichen Jerusalems zu Darstellungen eines bukowinischen, jüdischen Jerusalems umgestaltete. So wurde aus dem biblischen Walfisch ein festtäglicher Karpfen, christliche Kreuze wurden durch Davidssterne ersetzt und im Hintergrund erscheinen die schneebedeckten Karpaten.

Deckenbemalung in der Czernowitzer Synagoge